Mit offenen Augen träumen

Ein Leser postete gestern ein Video als Kommentar zu meinem Beitrag, auf das ich heute eingehen möchte. Kurz zusammengefasst geht es um die Aussichtslosigkeit, über das Wählen oder Gründen einer Partei oder die Nutzung eines anderen Instruments unserer politischen Landschaft wirkliche Veränderungen zu erzielen. Im Video wird argumentiert, dass ein jedes Spiel (ein Vergleich mit einem Casino wird gezogen) darauf ausgelegt ist, das System zu erhalten, wird argumentiert, man müsse bei sich selbst anfangen, falsche mit richtigen Ideen zu ersetzen (wie es die Wissenschaft mit der Religion getan habe), um dann mit der Zeit das Interesse der anderen auf sich zu erziehen, dann könnte man etwas bewirken. Im Folgenden einige Anmerkungen dazu:

Religion als falsche Idee

Ich würde nicht so weit gehen, Religion als falsche, durch die Naturwissenschaften überholte Idee abzutun. Bei allen Missständen, die in vielen, vielleicht sogar allen Religionen bis heute vorherrschen, haben sie doch in allen Zeiten einige wichtige Funktionen erfüllt, haben in unzähligen Fällen Menschen Führung in ungewissen Gefilden gegeben, in denen die Wissenschaft nicht reichen kann und vielleicht nie können wird. Das Problem sehe ich weniger in der Religion oder Spiritualitätt selbst sondern in der Idee, dass es am Ende des Tages eine Wahrheit zu geben habe (die übrigens auch die Wissenschaft vertritt).

Religion, Spiritualität und Wissenschaft stellen für mich keinen Widerspruch dar, weil sie alle in bestimmten Situationen ihren Zweck haben. Wenn ich die Äderchen eines Blattes betrachte, mag ich manchmal interessiert an ihrem Aufbau sein, wie es dazu gekommen ist und wie alles zusammenspielt, ein anderes Mal möchte ich vielleicht einfach nur staunen und ehrfürchtig sein gegenüber dieser Schönheit und Komplexität. Im Video wurde erzählt, die Religion wurde durch die Rationalität besiegt, aber in meiner Erfahrung sind wir mehr als rationale Wesen, sind auch fühlende, wütende, traurige, liebende Menschen, und diesen Anteil wegzurationalisieren halte ich für sehr schade.

Das alte Lied vom falschen Ton

Im Weiteren halte ich es auch für gefährlich, Ideen in richtige und falsche einzuteilen – es bedeutet in der Folge, dass ich Recht haben kann und der jeweils andere Unrecht, oder umgekehrt. Wenn es das Ziel sein soll, diese unrechten Ideen durch die richtigen zu ersetzen, wer richtet dann darüber, was richtig und was falsch sein sollte? Was geschieht, wenn wir auf jemanden treffen, der unsere rechten Ideen als unrichtig ansieht – wollen wir ihn zwingen, unsere Ansicht zu teilen? Darauf warten, bis er die Richtigkeit unser Perspektive einsieht?

Ja, auch ich glaube schon lange nicht mehr a Parteien, unsere Welt zum Positiven zu verändern, glaube auch nicht an gewaltvolle Lösungen wie Revolutionen oder eine von aussen verordnete Bildung mit den richtigen Ideen oder daran, dass ich oder irgendjemand da draussen die ganze Wahrheit gepachtet, die ganze Wahrheit vorleben kann, weil diese ganze Wahrheit eine sehr subjektive Sache ist. Es ist nicht die Wahrheit, es ist meine Wahrheit und deine Wahrheit, die sich in einigen Punkten überschneiden mag, aber nicht ident sein wird.

Es mag mir vergönnt sein, dem anderen einen Teil meiner Wahrheit zu offenbaren, durch gute Gespräche, durch mein Handeln, vielleicht auch durch diesen Blog, und es ist eine schöne Sache, wenn der Andere diese meine Wahrheit als Möglichkeit in seine Wahrheit integrieren kann und will, aber dies bedeutet nicht, dass er danach so handeln wird wie ich. Es wäre auch schade, ein so einzigartiges Menschenleben als Kopie zu verbringen wenn wir die Möglichkeit haben, ein Original zu sein.

Multiversen

Dieses Öffnen gegenüber der Innenwelt, der Wahrheit des Anderen und der Versuch, sie zu verstehen, als Möglichkeit in das eigene Innenwelt zu integrieren, entspricht vermutlich in etwa dem, was wir Empathie nennen. Spannenderweise beobachte ich immer wieder, wie Menschen von anderen Menschen verlangen, dass sie ihre guten Ideen schon zu verstehen haben und jetzt gefälligst danach leben sollen. Als wären sie Träger und Verkörperung der absoluten Wahrheit, als würde, wenn nur alle nach ihren Ideen und Prinzipien leben, diese Welt ein besserer Ort sein. Diese Menschen sind leider sehr selten bereit, auch die Innenwelten, die Wahrheiten ihrer zu überzeugenden Gesprächspartner in ihre Wahrheit zu integrieren, halten sich für allwissend, für fertig und dadurch naturgemäss mit der Aufgabe bedacht, dieses Allwissen nun an willige (oft auch unfreiwillige) Schüler weiterzugeben.

Es ist dies vermutlich die höchste Aufgabe eines Meisters, seine Innenwelt den anderen zu offenbaren und deren Innenwelten in sich aufzunehmen, um ihnen dadurch zu ermöglichen, auch ihre eigene Innenwelt den farbenfrohen Welten des Meisters und später, mit erwachtem Mut und lodernder Abenteuerlust, auch der Welt. Es sind die grossen Meister gewesen, die es uns vorgelebt hatten, sei es ein Buddha, ein Jesus, ein Ghandi oder Martin Luther King Jr. Sie waren unfertig, sie sie blieben unfertig, schwach in einer Welt voller Gewalt – doch gerade in ihrer Kindlichkeit, ihrer Unfertigkeit und Schutzlosigkeit lag wohl ihre grösste Macht.

Diese mächtigen Seelen, so viele Welten in sich, auf sich nehmend, tragend, liebend, lassen sich schwerlich mit einem Politiker heute vergleichen. Sie agierten ausserhalb der herkömmlichen Machtstrukturen, ausserhalb der herkömmlichen Logik und Rationalität der Macht, in dem sie die Macht, die ihnen gegeben wurde, hundertfach an ihre Anhänger zurückstrahlten. Nicht jeder hat die Chance, Politiker zu werden, aber ich glaube, in jedem von uns steckt das Potential, eine einzigartige Variante einer dieser grossen Führer zu werden. Sie sind Splitter der grossen Hoffnung auf einen Messias, die erkannt haben, dass dieser göttliche Funke in einem jeden von uns darauf wartet, zu einer Flamme der Hoffnung entfacht zu werden. Wir alle sind diese Führer, diese Meister, sobald wir aufhören, die Augen vor der Wahrheit zu verschliessen:

Und mit offenen Augen träumen.

Niklas

Odyssee eines Piraten

Wer meine bisherigen Beiträge etwas verfolgt hat, wird mitbekommen haben, dass ich mich von unserem politischen System nicht sehr viele der aus meiner Sicht nötigen Veränderungen erhoffe und der Idee, über eine Partei an Macht und Einfluss zu gewinnen, um diese Welt zu verbessern, nicht sehr viel abgewinnen kann. Ich wähle im Regelfall ohne grosse Hoffnung auf Veränderungen, wähle eben das geringere Übel, aber ich wähle, weil es zwar für mich ein nur sehr ungenügendes Mittel der politischen Partizipation darstellt, aber nichtsdestotrotz eines ist. Dieses Mal jedoch wage ich etwas zu hoffen, weil mit der Piratenpartei eine Partei in die Schlacht ziehen will, die in ihren derzeitigen Grundausrichtungen mit vielen meiner Ansichten übereinstimmt.

Es wäre vermutlich unrealistisch, zu glauben, sie würden später auf dem Weg einer Partei wirklich etwas erreichen, zu viele andere idealistische Menschen (zuletzt wohl die Grünen) haben sich im Machtgefüge zerreiben lassen. Aber wenn ihr Aufkommen dafür sorgt, mehr Menschen dazu zu sensibilisieren, dass es eigentlich ein Unsinn ist, Menschen in eine politische, eine herrschende und gestaltende und eine unpolitische, gehorchende und gestaltete Kaste einzuteilen, dann haben sie für mich bereits viel erreicht. Die Idee der Mitbestimmung, die stark in ihrer Ideologie verankert ist, halte ich für eine sehr gute.

Nun ist es ja so, dass sich zu dieser Wahl überraschend viele kleine Neuparteien gegründet haben, manche vielversprechender (eben beispielsweise die Piraten), manche mit zumindest viel Geld (Stronach etwa) und manche eher skurrile Varianten (etwa die Monarchenpartei). Allen diesen Kleinparteien, die nicht im Parlament vertreten sind, müssen, um überhaupt auf dem Stimmzettel Platz zu finden, bis zum Ende einer Frist eine bestimmte Anzahl an Unterstützungserklärungen zusammenbringen, und da ich, wie weiter oben schon ausgeführt, einige Vorschläge der Piraten recht vernünftig finde, wollte ich ihnen eben den Gefallen tun. Ein Freund hatte zufällig einige ihrer Mitglieder in Linz kennengelernt und einige dieser Erklärungen zum Ausfüllen dabei, man musste nur zur Gemeinde, das Abstempeln lassen und ihnen schicken, warum also nicht?

Odyssee

Ich lief also fröhlich in ein Linzer Bürgerservice im Altenheim in meiner Nähe, das an jenem Tag statt um acht uhr um elf aufsperrte, wollte es schon lassen, weil ich einen Zug zu erwischen hatte, als eine nette junge Dame mir ausserhalb der regulären Öffnungszeiten aufmachte, mir aber dann erklärte, ich müsste zum Magistrat.

Im Magistrat angekommen erklärte man mir wiederum, ich müsste nach Stadl-Paura, weil mei Hauptwohnsitz zwar mittlerweile Linz war, aber bis zu einem Stichtag einige Wochen vorher eben Stadl-Paura gewesen war, würde ich dort hinfahren müssen. Leicht genervt fuhr ich eben nach Stadl-Paura, was jedoch von Linz aus mit dem Zug eine Weile dauert und natürlich kam ich erst nach Mittag dort an. Da mein Vater dort wohnt, bat ich ihn, abends bei ihm schlafen zu können, weil ich sonst für diese dämliche Unterschrift einen Weg von etwa vier Stunden auf mich zu nehmen hätte, der dankenswerterweise einwilligte.

Am Gemeindeamt wurde mir erst erklärt, ich müsse nach Linz gehen wenn ich doch in Linz wohne und was ich hier von ihnen wollte (in entsprechend nettem Tonfall), bis ich ihnen erklärte, dass mir in Linz erklärt wurde, ich müsse nach Stadl-Paura und zumindest einer von den beiden Mitarbeitern, dort oder hier, müsste nun unrecht haben (in ähnlich nettem Tonfall). Dann war es noch ein Problem, dass ich meine aktuelle Linzer Adresse angegeben hatte, weil ja für diesen Stichtag die alte Adresse galt, aber schlussendlich hatte ich meine Bestätigung der Gemeinde. Um dann beim Heimgehen festzustellen, dass der letzte Abgabetag anscheinend der 29. Juli sei. Danke, Bürokratie!

Angst vor Piraten, Herr Faymann?

Anscheinend haben meine lieben piratigen Freunde in Oberösterreich so oder so bereits genügend Erklärungen gesammelt, um antreten zu dürfen, aber mir geht es da ums Prinzip: Wem nützt es, wenn diese Prozedur so unglaublich aufwendig gemacht wird, dass sich kein Mensch, der nicht ein wenig verrückt (oder irgendwann grantig, so wie ich) im Kopf ist, das alles antut? Natürlich den etablierten Parteien. Genauso wie dir Regelung, dass scheinbar ein jeder nur eine neue Partei auf diese Weise behilflich sein kann.

Wie weiter oben bereits angeführt, ich halte nicht viel von unserem Parteienwahlrecht und unserer repräsentativen Demokratie, weil ich glaube, dass es andere, effektivere und gerechtere Formen einer partizipativen Demokratie geben kann, und ich hege nur sehr geringe Hoffnungen auf radikale Veränderungen zum Besseren durch dieses Parteiensystem, ich glaube, dass hier andere Wege wie Bewusstseinsbildung effektiver sein werden. Aber solange wir diesen (aus meiner Sicht) Zwischenschritt überwunden haben, wähle ich anstatt der gstopften, anstatt der Selbsterhalter diejenigen mit einem Traum, die sagen, Leute, wir haben keinen Plan, ihr seid unser Plan, ihr seid unser Traum, und wir finden, dieser Plan ist ein verdammt guter Plan, den wir da zusammen träumen und leben wollen.

Vielleicht der beste Plan, den eine Demokratie hervorbringen kann.

Niklas

Und er gebot den freien Willen

Es erscheint ein Paradox: wie kann ein Gott einem Menschen einen freien Willen gewähren, wenn er ihm gleichzeitig Bestrafungen für die Missachtungen seiner Gebote androht? Wo ist hier die Freiheit? Im Tao Te King fand ich einst Teile einer Antwort, als ich dort Gut und Böse, Anziehung und Abstoßung, Hitze und Kälte als notwendige Teile eines Ganzen beschrieben vorfand. Das eine existiert nicht ohne das andere. Selbst Glück, das hohe Ziel vielen Strebens, existiert nicht im Vakuum, existiert nur im Gegensatz einer negativ erlebten Erfahrung.

Schaffen, Neuwerden kann nicht existieren ohne ein Enden, ein Sterben. Sich am Einen festzuklammern ist ein sinnloses Unterfangen, derjenige, der, um der Kälte zu entfliehen, in wärmere Gefilde wandert, wird dort alsbald eine feinere Unterscheidung der einstig als Wärme empfundenen Hitze in wärmere und kältere Hitze und schliesslich wieder in Wärme und Kälte zu treffen lernen. Alles existiert nur in Wechselwirkung mit ihrem Gegensatz.

Ein freier Wille würde wohl bedeuten, sich in jedem Moment für eine der jeweils zwei Richtungen, der zwei Pole entscheiden zu können. Wärme oder Kälte. Liebe, Anziehung oder Freiheit, Abstand nehmen. Konstruktion oder Destruktion. Leben oder Sterben. Glück oder Trauer. Er würde bedeuten, dass wir vielleicht nicht die Konstruktivität, jedoch den Sinn und den Wert einer jeden Ausprägung des Seins, wenn schon nicht erkennen, so zumindest anerkennen lernen.

Ein freier Wille ist der Gegenspieler einer Anti-Macht und einer Anti-Macht der Definition, über die ich hier schon einiges verfasst habe, ist die Freiheit, sich auch für Handlungen zu entscheiden, die wir im Allgemeinen als negativ, als destruktiv empfinden. Zu lügen, zu morden, Ehe zu brechen. Ich will hier nicht so weit gehen, diese Gebote aufzuweichen, weil ich zumindest die ersten beiden für sehr wichtige Bestandteile einer Gesellschaft halte. Aber welchen Wert hat eine Wahrheit, wenn die Möglichkeit zur Lüge genommen?

Du sollst nicht…

Ewige Gebote aufzustellen birgt gewisse Schwierigkeiten in sich, nicht nur, weil diese Welt in ständigem Wandel begriffen ist und ich beispielsweise das Gebot wider dem Ehebrechen heutzutage für problematisch halte in einer Gesellschaft, in der ein sehr grosser Anteil der Ehen wieder geschieden werden und in vielen anderen Ehen Seitensprünge mit den entsprechenden Lügengeweben die Regel sind.

Vor allem aber belegen diese Regeln, so wie sie üblicherweise interpretiert werden, bestimmte Handlungen nicht mit bestimmten FOlgen sondern einer absoluten Wertung. Es ist schlecht, es ist Sünde, Ehe zu brechen. Es ist schlecht, es ist Sünde, Vater und Mutter nicht zu ehren, und so weiter. Wenn es eine absolute Instanz gibt, die Sünden definiert, die über gut und böse verfügt, wie kann dann etwas wie ein freier Wille existieren?

Du sollst nicht, um nicht…

Die einzige Möglichkeit aus diesem Dilemma sehe ich darin, diese absolute Wertung als geschichtlich gewachsen zu betrachten und die alten Schriften als Ursache-Konsequenz-Erzählung zu betrachten. Wenn Menschen so und so handeln, hat dies diese und jene Folgen, seien sie konstruktiv oder negativ, oder – richtiger – wenn diese Menschen so oder so handelten, hatte es diese und jene Folgen, weil keine Situation jemals exakt der anderen entspricht.

Der freie Wille bleibt aufrecht, weil immer noch entschieden werden kann, ob die überlieferten Folgen jener Situationen mir subjektiv richtig erscheinen. Nicht „Wenn du dies tust, bist du ein schlechter Mensch und kommst in die Hölle“ sondern „Wenn du dies tust, wird es diese und jene Folgen haben – bedenke sie gut!“. Wer Ehe bricht, wird vielleicht einige aufgebrachte Menschen gegen sich vorfinden, aber sich in Abwegung mit einer unglücklichen Ehe trotzdem dafür entscheiden.

Gebote in der Schule

Warum dieser lange Ausflug in die Theologie oder Philosophie? Nun, ich glaube, dass sich eine ähnliche Form der Aufstellung von Geboten auch mit Kindern einsetzen lässt. Anstatt „harte“ Gebote aufzustellen, die in jedem Fall durchgesetzt werden (mit der Gefahr, bei einer eventuellen Situation der eigenen Machtlosigkeit eine Lawine loszutreten), könnten Gebote so formuliert werden, dass klar ist, welche Handlungen zu welchen Konsequenzen führen werden. Wenn du deinen Mitschüler schlägst, werde ich mir Sorgen machen, dass du ihn verletzt und versuchen, dich davon abzuhalten. Wenn du mit dem Sessel schaukelst, habe ich Sorge, dass du dich verletzt und werde versuchen, dich davon abzubringen. Wenn du einen Test nicht bestehst, werden sich deine Eltern vielleicht Sorgen machen, vielleicht gibt es Streit zu Hause.

Wir sind keine allmächtigen Götter, und ich zweifle ehrlich gesagt auch ernsthaft, dass sie überhaupt existieren, halte auch institutionalisierte Religionen im Gegensatz zu einer persönlichen Spiritualität und einem persönlichen Suchen für eine bedenkliche Sache. Aber all die alten Schriften und die Erfahrungen, die Milliarden von Menschen mit ihnen gemacht haben, können uns viel lehren. Manche hielten sich eisern an sie und waren glücklich, manche unglücklich dabei, manche lebten die Fülle des Lebens, ohne gross auf ihre Gebote zu achten, manche glücklich, manche unglücklich. Viele fanden jedoch in ihnen Hinweise und Wegweiser auf ihrem eigenen spirituellen Weg, wenn sie die Erfahrungen längst verstorbener Helden und Unholde lasen, zitierten, sangen, priesen, jeder auf seine Weise näher oder ferner den Lektionen, die angeblich darin zu finden sind.

Ich glaube, diese Schriften sind wie ein Kunstwerk, dass von jedem Betrachter anders wahrgenommen wird, das in jedem forschenden Geist zu anderen Schlüssen führen wird. Natürlich gibt es Regeln, Naturgesetzen gleichend. Wer mordete, erhöhte seine Chancen, ermordet zu werden, wer auch nur eine der grossen Gebote brach, wurde oft ertappt, oft verflucht und erfuhr auch oft ein böses Schicksal. Aber diese Gesetze basieren auf Erfahrungen, sind nicht immer wahr. Manche Diebe wurden Könige, manche Ehebrecher hängten wohl voll Entzücken über ihre Tat am Strick. Die absolute Macht, die absolute Gerechtigkeit, bleibt eine Tendenz, eine starke zwar, aber doch eine Tendenz.

Konsequenzen anzudrohen, ist ein gefährliches Spiel für einen jeden, der keine göttliche Allmacht besitzt, weil irgendwann der Tag kommen wird, an dem unsere vermeintliche Allmacht bricht, an dem die Illusion der Kontrolle an der Realität unserer Ohnmacht kentert. Wenn wir Konsequenzen beschreibend erklären, ohne über die möglichen Handlungen unserer Schüler zu werten, lassen wir dem Schüler seine Macht und damit seine Verantwortung – seinen freien Willen – intakt.

Die Frage ist – und dabei können wir uns durchaus ein bisschen göttich fühlen – ob wir das denn wollen?

Niklas

Das Feuer der Entdecker

Jetzt bin ich bereits wieder eine Woche in Österreich angekommen, was habe ich erreicht? Ich habe mein Zimmer in Linz wieder bezogen, viele alte Freunde wieder getroffen und relativ wenig geschlafen. Ein paar neue Menschen kennen gelernt, auch wenn es noch schwer fällt, aber was habe ich vorzuzeigen, wovon kann ich erzählen, welche meiner Ziele habe ich erreicht? Inmitten der vielen Momente, in denen ich sehr froh bin, den Pfad der fixen Zielsetzungen verlassen zu haben, gibt es diese Momente, in denen der innere Sklaventreiber wieder erstarkt: Was hast du heute grossartig erreicht? Welche signifikanten Ergebnisse bringt dein Tagwerk hervor?

Es tut gut, messbare Ergebnisse, sichtbare Rückmeldungen des eigenen Tuns zu haben. Ich behaue ein Stück Holz, und mit der Zeit, langsam, aber doch sichtbar, wird es zur Statue. Ich vermische einige Zutaten und aus der unkenntlichen Masse entsteht ein duftender Kuchen. Mein Tun hat sichtbare Folgen, nicht nur für mich, sondern auch für andere. Die mir anvertrauten Kinder bestehen nach meinen Belehrungen eine Nachprüfung. Mein Tun hatte, gut sichtbar, einen Sinn. Meine Methoden und Strategien führten zum gewünschten Effekt. Ich hatte die Sache unter Kontrolle. Die richtigen Strategien führen zu den gewünschten Ergebnissen – ein Sinnbild meiner Kompetenz.

Ewige, heilige Suche

Was aber, wenn mein Ziel nicht die Erreichung eines bestimmten Zieles selbst ist, sondern diese Ziele nur Richtungen vorgeben, in die ich mich entwickeln möchte? Wenn Umwege vielleicht nötige Entwicklungen nach sich ziehen, wenn eine simple Unterscheidung in gut/schlecht, richtig/falsch nicht mehr so einfach erscheint? Manchmal wünsche ich mir diese einfacheren Zeiten zurück, in denen ich mich auf andere Menschen verlassen konnte, die mir sagten, was ich zu tun und was ich zu unterlassen hatte. Diesen Anforderungen zu entsprechen bedeutet auch, die entsprechenden bekannten positiven und negativen Rückmeldungen zu bekommen. Es ist manchmal einfach herrlich unkompliziert, in schwarz und weiss zu denken, es entlässt von einer Verantwortung, die manchmal schwer zu schultern ist: diese Bewertung der Wirklichkeit selbst vorzunehmen und für die Konsequenzen geradezustehen.

Wege abseits der ausgetretenen Pfade von Gut und Böse zu beschreiten, bedeutet, weite Strecken ohne diese externen Rückmeldungen, die wir so gewohnt sind, zurückzulegen, bedeutet, sich im freien Gelände über den Instinkt zu orientieren. Bedeutet unweigerlich auch, Fehler zu machen, vom Weg abzukommen, Umwege zu machen, die Richtung zu wechseln, Unterschlupf vor Unwidrigkeiten suchen zu müssen, an bitterem Hunger, an Einsamkeit zu leiden, vielleicht auch die gesteckten Ziele nie zu erreichen. Bedeutet, der Rolle des Touristen, der seinen touristischen Sehenswürdigkeiten folgt und enttäuscht ist, wenn die Attraktion geschlossen ist, abzustreifen, um in die Rolle des Entdeckers zu schlüpfen, der auf der Suche nach Abenteuern und neuen Entdeckungen viele Unwirtlichkeiten der Reise freiwillig auf sich nimmt.

Der Entdecker lebt den Prozess des Entdeckens, des Erforschens, des Neuen, und folgt keinem vorgeschriebenen Weg, weil er Neuland betritt. Natürlich verlässt er sich auf seine bisherigen Erfahrungen, vielleicht Hilfsmittel wie einem Kompass, wird Nahrung mitführen und vielleicht für eventuelle Notfälle vorgesorgt haben. Aber er hat kein festgelegtes Ziel ausser dem Weg, den er hinter sich bringt und die Erkenntnis, die ihm dieser Weg bringen wird. Er hat vielleicht Vorstellungen von der Beschaffenheit des Weges, aber legt sich nicht im Vorhinein fest, nur einen Trampelpfad zu betreten, wenn er wider Erwarten eine Schnellstrasse entdeckt. Er folgt dem Gelände in der Richtung, die ihm seine Erfahrung, sein Bauchgefühl, vorgibt, nicht um zu finden, sondern um unvoreingenommen zu erfahren.

Der Schmerz und die Freude

Ein Entdecker-Leben ist keine einfache Art, ein Leben zu verbringen, aber ich glaube, es ist eine sehr lohnende. Ein Entdecker muss mit dem Risiko leben, nichts Neues entdeckt zu haben, im Kreis gelaufen zu sein oder gar grosse Not zu leiden, wenn ihm die Vorräte ausgehen und er sich fern aller Zivilisation befindet. Vielleicht interessieren seine Entdeckungen auch niemanden ausser ihn selbst, hinterlässt er seine Spuren in Wäldern, um eines Tages von einer Klippe zu fallen, nie aufgefunden zu werden, während neues Gras über seine Fussabtritte wächst.

Doch diese Fssabdrücke, so klein und unbedeutend sie auch sein mögen, so wenig von ihrem Urheber bekannt sein mag, der einige Tagesreisen weiter tot in einem Abhang auf seine Auffindung wartet, diese Fussabdrücke gehen ein in den ewigen Fluss eines Waldes, einer Landschaft, werden Teil von ihr, eins mit ihr, veränderten das Gesicht der Erde, der Welt, um diese wenigen Zentimeter, die Folgen nach sich ziehen können. Weitere Wanderer stossen auf die Spuren, finden die Leiche, vermeiden die Klippe, eine Verbindung zwischen zwei Städten entsteht, Strassen werden gebaut. Oder durch das sanfte Auftreten des Entdeckers wurde die Erde durchlockert, was ihr Wachstum förderte, und hunderte Jahre spätDer Schmerz der Entdeckerer verläuft ein Waldstück entlang des alten Pfades des Entdeckers.

Entdecker stellen sich dem grössten Erfolgsdruck von allen: der eigenen Bewertung. Es ist schwer, sich selbst zufriedenzustellen, beinahe unmöglich. Und so verbringen diese rastlosen Seelen ihr Leben zwischen fast manischen Phasen des Aufbruches, des Reisefiebers und dem dumpfen Gefühl, sich nicht genug angestrengt zu haben, zu lasch gewesen zu sein, finden kaum Ruhe, kaum Rast, sind oft verzückt über neue Entdeckungen, dann wieder zutiefst traurig über ihre eigene Unzulänglichkeit, überanstrengen sich, brechen erschöpft zusammen, werden stärker, werden weiser, aber ihr Herz lässt sie nicht ruhen, solange es noch Hoffnung auf einen nächsten Schlag, einen nächsten Moment dieser köstlichen Freude des Neuen gibt.

Solange werden wir Entdecker brennen, leiden, lieben, leben.

Niklas

Der Masken müde

Ich bin müde. Zu müde, um heute, Samstag, einem Fortgehtag, noch aus dem Haus zu gehen, obwohl mich eine Freundin netterweise eingeladen hätte. Gestern Abend waren so einige Bekannte zu einem Spieleabend zusammengekommen, und irgendwann hatte ich keine Lust mehr, mit ihnen zu reden, und zog mich zurück, um an einem sozialen Abend alleine zu sein. Vorher, am Bahnhof, setzte sich eine junge Frau auf eine Bank hinter mir, schaute, pflichtbewusst und demonstrativ unserer österreichischen Kultur folgend, auf die Seite, wenn ich sie anblickte. Bis ich den Bann brach und sie ansprach, woraufhin sich ein interessantes Gespräch entwickelte. Sie war Streetworkerin und ich lernte im Gespräch einiges über diesen spannenden Beruf.

Vielleicht liegt es an der Hitze, vielleicht an meiner ausgeprägten Müdigkeit in den letzten Tagen oder an einer mir noch nicht so ganz bewussten Erkenntnis, aber ich kümmere mich immer weniger um unsere gesellschaftlichen Normen von dem, was man so zu tun hat, was man so zu fühlen und um was man sich zu sorgen hat. Jahrelang hatte ich versucht, so cool zu sein wie diese Männer mit den Sonnenbrillen und braungebrannten, muskelgepackten Oberkörpern, hatte Frauen bewundert, die es schafften, einfach so unglaublich lässig zu wirken, wenn sie an mir vorbei liefen. Sie schienen einfach diesem Ideal des glücklichen und zufriedenen Menschen zu entsprechen, das ich, so viel ich mich mühte, nicht zu erreichen vermochte.

Nun, Jahre später, mit durch viele Erfahrungen geschärftem Blick, sehe ich durch viele dieser Sonnenbrillen, sehe den gehetzten Blick, den Schutz, den diese Sonnenbrillen vor der Bewertung der Welt darstellen. Sehe die kleinen Unsicherheiten in dem leicht herablassenden Blick der jungen Frauen, die kleinen und grosse Fehler, wenn ich ihren Blick entgegne. Es sind Blicke, die darauf aufbauen, den anderen zu zeigen, wie cool man ist, aber nicht darauf, dass der andere stark genug ist, den Blick zu erwidern, weil dann könnte ja die ganze Fassade der Unverwundbarkeit plötzlich gefährdet werden, gar zusammenbrechen, gar das ohne sie so schutzlose und gar nicht so perfekte Ich zum Vorschein bringen. Die Fassade, der Lack muss halten.

Denn das, was unter dieser Fassade, dieser Maske lauert, ist gefährlich, mag Ablehnung hervorrufen. Es gibt eben gewisse gesellschaftliche Regeln des Zusammenspiels, und wenn dieses dunkle Ich nicht mit diesen Regeln zusammenspielt, muss es eben hinter der Maske gehalten oder durch das Aufsetzen der Maske in ein sozial angepasstes und konstruktives Mitglied der Gesellschaft geformt werden.

Inseln im Meer der Masken

Doch hinter dieser Maske übersieht unser derart deformiertes Ich leicht, dass hinter all den anderen Masken, die unsere Mitmenschen tragen, ebenso diese Schatten lauern, diese irrationalen, gefährlichen Neigungen und Bedürfnisse, die nicht gesellschaftstauglich und damit unsichtbar verbleiben, die Angst, die Verunsicherung, die Lust, die sich hinter der schützenden Sonnenbrille versteckt, das, was nicht sein darf, aber nichtsdestotrotz ist, deformiert, unterdrückt und immer wieder schmerzlich hervorbrechend: unser wahres Ich.

Übersieht es nicht nur leicht, dass es in seinen abgestossenen und unterdrückten Anteilen nicht alleine ist, dass es sein Ebenbild in einer Vielzahl von kleinen Anzeichen im Auftreten, in den Bewegungen und den Blicken der anderen erhaschen kann, dass es sich diesen Menschen relativ gefahrlos öffnen und zeigen kann, weil es nichts Bedrohliches und Fremdes sein muss, sondern wie ein verloren geglaubter Freund uns zeigen kann, dass es auch als Mann in Ordnung ist, zu weinen, dass es auch als Erwachsener in Ordnung ist, Fehler zu machen. Übersieht es vor allem jedoch auch leicht, dass gerade jener dunkle Anteil, jener nicht gesellschaftstauglicher Anteil, der Teil von ihm sein kann, der einen Mitmenschen nicht nur traurig oder wütend, sondern auch glücklich machen kann.

In unserer kulturell stark normierten und durchorganisierten Welt finden wir so viele angebotene Strategien für Maskenmenschen vor, die Maskenmenschen glücklich und zufrieden zu machen versprechen, aber sehr wenige, die für den ganzen Menschen hinter den Masken geeignet sind. Dies hat den einfachen Grund, dass diese Wege durch ihr beschreiten geschaffen werden und kein Weg dem anderen gleichen kann, so wie kein Mensch in Wahrheit hinter der Maske dem anderen gleicht.

Es bedeutet, unsere Lernstrategien für Maskenmenschen zu verlassen, um unsere eigenen Lernwege zu begehen, bedeutet, die wenigen uns angebotenen Strategien, einen anderen Maskenmenschen zu lieben, hinter uns zu lassen und die Menschen hinter den Masken in seiner ganzen strahlenden Schönheit aufzusuchen. Diesen weinenden, lachenden, hassenden, liebenden, schmerzvollen und glückserfüllten Menschen, der es wagt, auch uns ohne unsere Masken zu sehen, bei dem wir unser volles Spektrum als Mensch sein können, bei dem wir uns unserer Nacktheit von den Masken die unsere Körper und Seele verhüllen, nicht schämen. Bei dem wir kein One Night Stand, keine Beziehung oder Freunde sind, sondern unser dunkles, zerschundenes, sterbendes und in immer wieder in strahlenden Lichtern wiederauferstehendes Ich.

Niklas

Freunderlwirtschaft

Als ich die Tage von meinem Grossvater zum Essen eingeladen wurde, redeten wir auch sehr viel über seinen Werdegang als Geschäftsmann, der beinahe ausschliesslich darauf basierte, funktionierende Netzwerke aufzubauen. Da mir immer mehr klar wird, dass beinahe jeglicher beruflicher Erfolg darauf aufbaut, diese Netzwerke zu nutzen, fragte ich mich, wie dieses Netzwerken, das Aufbauen und Nutzen von Freunden, eigentlich mit dem negativ besetzten Begriff der Freunderlwirtschaft zusammenhängt.

Auch aus anderen aktuellen Anlassfällen höre ich immer wieder, wie Arbeitsstellen über Empfehlungen von Bekannten und Freunden vermittelt werden, und von einiger Entfernung betrachtet macht dies auch sehr viel Sinn: diejenigen Menschen, die Zeit mit uns verbringen, können uns in vielen Bereichen sehr viel besser einschätzen als Notengrade oder Abschlüsse. Sie wissen, dass sie mit uns in zwischenmenschlicher Hinsicht zurechtkommen, was zukünftige Reibereien im Vorhinein unwahrscheinlicher macht.

Subjektiv vs. objektiv

Die Einschätzung von Freunden ist eine subjektive Einschätzung, was ein erheblicher Vorteil bei der Einschätzung über Kompatibilitäten zwischen Mitarbeitern sein kann. Der Freund, der mich empfiehlt, wird in vielen Fällen weitgehend reibungslos mit mir zurechtkommen. Für eine Zusammenarbeit mit diesem Freund (und bis zu einem gewissen Grad auch seine Freunde) ist seine subjektive Einschätzung sehr viel aussagekräftiger als eine gute Bescheinigung über „Teamfähigkeit“.

Laut Seth Godin entwickelt sich mittlerweile wieder eine Art von loser Stammeskultur, in der sich Menschen nach bestimmten Interessen und Sympathien zusammenfinden: Computerbegeisterte, Guerilla-Stricker oder Fussballer – Netzwerke. Zunehmend losgelöst von alten Familienbanden und Nationalitäten verbinden sich heute Menschen, die sich aufgrund ihrer Ähnlichkeiten zueinander hingezogen fühlen, erwerben durch ihr Handeln innerhalb dieser Stämme einen Ruf, der wieder zu neuen Verbindungen und Möglichkeiten führt. Anstatt zwingend die eigenen Kinder zu unterstützen, wird derjenige oder diejenige unterstützt, dem oder der wir uns am Nächsten fühlen.

Freunderlwirtschaft = Netzwerken?

Unsere Freunde, Menschen, denen wir uns verbunden fühlen oder/und deren Anliegen wir für unterstützenswert halten, bekommen unseren Zuspruch, unsere Empfehlung, unsere Hilfe. Ich halte dies für eine natürliche Sache. Ich kann nicht alle gleich behandeln, will dies auch gar nicht, denn je nach Situation werde ich manche Menschen aufgrund meiner subjektiven Erfahrungen mit ihnen in vergleichbaren Situationen für mehr oder weniger kompetent halten. Wenn ich von einer Herausforderung höre, deren Bewältigung mir sinnvoll und wichtig erscheint, werde ich auch den- oder diejenige dafür vorschlagen, der oder die aus meiner subjektiver Sicht kompetent erscheint.

Problematisch wird dieser natürliche Prozess dann, wenn ich mich nicht mit dem Ziel eines Projektes, einer Arbeit identifizieren kann, wie es im Arbeitsleben oft vorkommen mag. Wenn ich den extrinsischen Nutzen einer Arbeit (etwa Geld) vor den intrinsischen (etwa die Erfüllung vor Bedürfnissen) stelle, wenn ich einem Freund helfen will, Geld zu verdienen, anstatt durch sein Vorschlagen die Arbeit selbst unterstützen zu wollen, nähern wir uns der negativen, der destruktiven Seite der Freunderlwirtschaft: derjenigen, in denen Menschen in Situationen geschoben werden, für die sie ungeeignet sind, oder – noch destruktiver – die erst zur Erfüllung ihres Geldbedarfs geschaffen werden.

Solange eine Vielzahl an Unternehmen die Gewinnmaximierung vor dem intrinsischen Sinn ihrer Arbeit stellen, wird es diese destruktive Form der Freunderlwirtschaft, diese Korruption, geben, weil sie eine logische Folge von ihr sind. Es wird nicht viel bringen, diese Netzwerke zu verbieten oder zu bestrafen, sie arbeiten hinter verschlossenen Türen und sind schwer kontrollierbar. Zudem können sie, richtig eingesetzt, ein machtvolles Instrument zur Besetzung der richtigen und hochmotivierten Mitarbeiter sein. Freunderlwirtschaft ist nicht an sich eine schlechte Sache.

Trennung

In meiner Schulzeit wurde mir erklärt, wenn ich nur die nötigen Kompetenzen und Abschlüsse erwerben würde, würde ich später schon eine Arbeit finden, und dies entspricht vermutlich auch der Wahrheit. Ich würde eine Arbeitsstelle finden und ich würde vermutlich gar nicht so schlecht verdienen. Aber wenn es mein Ziel ist, die extrinsischen Belohnungen wie ein hohes Gehalt oder einen hohen Status in der Gesellschaft als angenehme, aber vernachlässigbare Nebensachen hinter mir zu lassen, um mich auf den intrinsischen Nutzen meines Tuns zu konzentrieren, werde ich nicht umhinkommen, mich in diesen Netzwerken, diesen Stämmen, wie Godin es beschreibt, zu bewegen.

Es ist das alte Lied von der Individualisierung, der Trennung von mir und meiner Aussenwelt, dass mir hier vorgespielt wird. Erwerbe jene Kompetenzen, jene Abschlüsse, jene Geldsumme, um unabhängig von den anderen zu werden. Du brauchst sie nicht in deinem Leben, was ihnen passiert, ist unwichtig für dein Leben, dein Glück. Nur: es ist ein altes Lied, vielleicht mit romantischem Charakter, dass uns an eine gute alte Zeit zurückdenken lassen mag, als wir noch daran glaubten, nicht ohne die Ironie, die aufgrund der darauf folgenden Erfahrungen dieses Lied in einem anderen Licht erscheinen lässt. Der reiche Geschäftsmann am Ende seines Lebens und seine Tränen in dem Moment, in dem er den wahren Wert seines Reichtums erkennt. Die verstörte Frau mit Gebärmutterhalskrebs, die nun ihre Entscheidung, ihren Kinderwunsch ihrer Karriere zu opfern, um später genug Geld für sie zu haben, bitter bereut.

Kompetenzen und Abschlüsse sind Ausdruck einer Objektivierung, sind Ausdruck einer Reduktion des Menschlichen in unserer Interaktion. Nicht Hermann Häusler verkauft mir sein Brot, sondern ein Bäcker. Nicht Niklas erklärt mir etwas, was ich nicht verstehe, sondern der Herr Lehrer. Zur Besetzung einer Stelle suchen wir keinen Menschen, sondern eine Rolle. Kapitalismus muss in seiner Logik Freunderlwirtschaft bekämpfen, weil Freunderlwirtschaft auf zwischenmenschlichen Beziehungen basiert, die in der Abstraktion des Wertes nicht vorkommen. Ironischerweise verstärkt der gleiche Kapitalismus mit seiner Verschiebung von der intrinsischen zur extrinsischen Motivation erst den negativen Effekt der Freunderlwirtschaft.

Ich denke, wir sollten Kindern und Jugendlichen in der Schule die ganze Wahrheit erzählen. Dass all ihre Kompetenzen und Abschlüsse schön sind, aber sie es ohne Netzwerke heutzutage schwieriger haben werden. Dass sie, wenn sie diese Netzwerke nutzen, um einer Sache zu dienen, innerhalb dieser Netzwerke einen guten Ruf aufbauen können, der ihnen neue Wege eröffnen kann, während sie, wenn sie sie hauptsächlich nutzen, um sich oder ihre Freunde zu bereichern, mit Vorwürfen der Freunderlwirtschaft, der Korruption und einer gehörigen Portion Neid und Missgunst rechnen sollten. Dass es eine Entscheidung ist, die sie tagtäglich neu treffen und mit den Konsequenzen dieser Entscheidungen leben werden müssen.

Und, so nebenbei, dies gilt auch für uns.

Niklas

Tanzende Sterne

Vorgestern hatte mir ein liebenswürdiger Mensch ein Buch über Marshall B. Rosenberg und seine gewaltlose Kommunikation geliehen, das ich in der Folge in zwei Stunden verschlang. An der pädagogischen Hochschule hatten wir in einem Seminar bereits einige Übungen zur GK absolvieren müssen, aber diese Übungen waren so künstlich gewesen, dass ich wenig Interesse an einer weiteren Vertiefung gehabt hatte. Dieses Buch änderte meine Meinung grundlegend, weil ich im Lesen erkannte, dass die Methode, die Sprache, nur ein Ausdruck einer tiefer liegenden Haltung ist, mit der ich sehr viel anfangen kann.

Zur Kommunikation gehören zwei

Eine reine Reduzierung auf eine gewaltlose Sprache halte ich auch für problematisch, da zu einer Kommunikation immer mindestens zwei Menschen gehören, die dazu dieselbe oder sich zumindest ausreichend überlappende Sprachen sprechen müssen. Gewaltlose Kommunikation funktioniert vermutlich sehr gut, wenn zwei Konfliktpartner diese Art zu sprechen beherrschen, wenn dies jedoch nur einer der beiden tut, wird es komplizierter. Aus eigener Erfahrung als dieser Unverständige im Gespräch mit dieser Sprache Mächtigen weiss ich, wie frustrierend und auch gewaltvoll solche Gespräche sein können, weil man sich als „Anderssprachiger“ nicht ernst genommen fühlen kann.

In manchen Situationen mag es möglich sein, dem Gesprächspartner diese gewaltlose Kommunikation beizubringen, aber oft wird der Gesprächspartner dies nicht akzeptieren wollen. Wenn ich nun versuche, ihm diese Art des Gesprächs aufzudrängen, handle ich nicht gerade sehr gewaltlos, und wenn ich mich weigere, von dieser Art des Kommunizierens Abstand zu nehmen und die Sprache des Anderen zu sprechen, sprechen wir leicht aneinander vorbei. Möglicherweise streiten wir uns sogar erst recht wegen der Sprachunterschiede.

Ich kann von meinem Gegenüber nicht erwarten, dass dieser eine gewaltlose Kommunikationsform anwendet, ich kann auch nicht erwarten, dass er sie sich aneignet. Alles ausserhalb von mir (und in geringerem Ausmass sogar ich selbst) unterliegt nicht meiner Kontrolle. Ich kann meine eigene Sprache kontrollieren und verändern, aber niemanden anderen dazu zwingen, zumindest nicht auf eine Art und Weise, die ich als sonderlich gewaltlos einstufen würde. Anstatt unser Augenmerk auf eine gewaltlose Kommunikation zu legen (und damit der Illusion der Kontrolle zu unterliegen), halte ich es für wichtiger (und sinnvoller), an unserem Handeln zu arbeiten. Wir können die Reaktionen des Anderen (in Sprache und Tun) nicht kontrollieren, wohl aber unsere Interpretation dieser Reaktionen.

Rosenberg beschreibt eine sehr positive Grundhaltung, die davon ausgeht, dass alle Menschen im Grunde ähnliche Bedürfnisse haben, jedoch verschiedene Strategien zur Erfüllung dieser Bedürfnisse erlernt haben. Selbst jemand, der jemanden umgebracht hat, ist damit kein von sich aus schlechter Mensch, sondern jemand, der keine andere Strategie für die Erfüllung seiner Bedürfnisse erlernt hat. Wenn uns Menschen Schaden zufügen, uns verletzen, würde dies bedeuten, dass sie (vielleicht mit unserer Hilfe) ihre destruktiven Strategien und dazugehörigen Bedürfnisse herausfinden und gegen konstruktivere austauschen können.

Kristalle und Licht

Ich möchte hier eine Metapher verwenden, die ich vor einigen Jahren zur Beschreibung einiger Gedankengänge verwendet habe: wir sind alle Kristalle. Wenn ein Lichtstrahl in einen Kristall fällt, spiegelt sich dieser in der Kristallstruktur wieder und strahlt in die Welt hinaus, wo er wiederum andere Kristalle trifft, und so weiter. Rosenberg schreibt über die Wichtigkeit der Bitte, die Wichtigkeit, jemanden seine Bedürfnisse sichtbar zu machen, ohne ihn zur Handlung zu verpflichten (das wäre dann ein Befehl). Die Wichtigkeit, einen Teil des Kristalls für das Licht des Anderen durchlässig zu machen, auf dass uns dieser ein wenig von seinem Licht abgeben kann. Laut Rosenberg ist eine Bitte ein Geschenk an den anderen, weil nichts uns mehr erfüllt, als etwas von uns zu geben – eine sehr schöne Weisheit, wie ich finde.

Rosenberg schreibt auch über die Wichtigkeit, Dankbarkeit und Freude auszudrücken. Vielleicht bin ich hier ein Einzelfall, aber mir wurde irgendwann eingetrichtert, dass es unhöflich sei, sich selbst zu loben, dass es andere dazu brächte, sich schlechter zu fühlen. In der Folge habe ich oft meine Freude über Erfolge sehr reduziert ausgedrückt – wer will schon, dass sich andere schlecht fühlen? Aber das Bild der Kristalle hilft uns auch, diese Konstellation zu überbrücken: Es ist nicht mein Erfolg. Mein Erfolg ist der Erfolg aller, die mich mit ihrem Licht erfüllt haben, und die Freude über diesen Erfolg auszudrücken, bedeutet, diese Freude und damit auch dieses Licht, diese Energie, an die Welt zurückzuschenken.

Mir ist bewusst, dass unser Wirtschaften diesem Bild konträr entgegensteht, dass wir dazu angehalten werden, unsere Erkenntnisse für uns zu behalten, um die Konkurrenz nicht zu stärken und unsere Erfolge zu unserem eigenen zu erklären, um unseren Profit zu maximieren, aber damit unterbrechen wir das weiter oben beschriebene Lichternetz. Wenn wir uns weigern, „unser“ Licht anderen zu schenken, gehen mit der Zeit „die Lichter aus“. Und selbst diejenigen, die wir als leuchtende Sterne wahrgenommen werden, verlieren an Leuchtkraft, bis wir sehen, dass auch sie am Ende nur weisse Zwerge waren.

Trauen wir uns, unseren Kristall zu reinigen, den über die Jahre angesammelten Schmutz zu entfernen und uns damit der Welt zu öffnen, so werden wir offen für das Licht der anderen und schenken ihnen damit die Möglichkeit, ihr empfangenes Licht an die Welt weiterzugeben, Teil eines göttlichen Kreislaufes zu werden. Und wenn wir dies tun, sehen wir auch die vielen kleinen Sterne, die sich nach etwas Wärme, etwas Licht in der Dunkelheit sehnen, und können das herrliche Licht, dass sich in unserem Inneren spiegelt und uns Wärme gibt, weitergeben. Dazu braucht es keine Ordnungen und Sicherheiten, braucht es keine Verpflichtungen des anderen, sich an einer gewaltlosen Kommunikation zu orientieren. Es reicht, sich zu öffnen und in die Welt zu strahlen, ohne Rücksicht auf Verluste.

Denn Energie geht nicht verloren – sie wird nur umgewandelt.

Niklas

Eine Woche der Stille

In einer Woche ist es nun zwei Monate her, dass ich den ersten Beitrag in diesem Blog verfasst hatte, mit der aus damaliger Sicht verrückten Idee, mit meinen Ideen „an die Öffentlichkeit“ zu gehen. Es war ein Versuch, sollte ihn niemand lesen, so würde mir das Schreiben zumindest helfen, meine Gedanken zu ordnen. Nun, knapp zwei Monate später, spuckt mir die WordPress-Statistik diese Weltkarte aus:

10.30

Während ich mir Österreich, Deutschland, Schweitz und Brasilien noch halbwegs logisch erklären kann, bin ich etwa bei Rumänien relativ ratlos, woher die einzelnen Aufrufe stammen. Innerhalb von nicht ganz zwei Monaten werden meine Ideen, bei denen ich gezweifelt hatte, ob sie irgendjemanden interessieren, offensichtlich von vier der fünf Kontinente aus aufgerufen. Irgendetwas scheine ich hier richtig zu machen, und da ich technisch gesehen die Gratis-Minimal-Variante von WordPress benutze, scheint es echt an den Inhalten zu liegen. Mittlerweile ist es oft die schönste Zeit des Tages, wenn ich den täglichen Artikel verfasse. Schreiben erfüllt mich, und die wunderschönen Rückmeldungen ebenso – Danke an einen jeden von euch, der diese Texte manchmal oder auch regelmässig liest.

Es gibt den alten Ausspruch von der Feder, die mächtiger sei, als das Schwert, und es ist eine Weisheit, an die ich fest glaube. Ich glaube, selbst als Bildungsminister könnte ich (als Schwert-Nutzer) kaum etwas am Bildungssystem ändern, weil die Macht des Schwertes auf Gewalt beruht, darauf beruht, jemanden mit Gewalt von etwas abzuhalten. Die Macht der Feder, die Macht des Wortes, benötigt keine Titel, benötigt keinen Status, ist uns allen zugänglich, eine Demokratie in Reinform. Vor allem bringt sie uns zum Handeln. Ich glaube mittlerweile, die Chancen, etwas wirklich zu verändern, sind höher, wenn wir etwas praktizieren und darüber zu sprechen oder schreiben, als etwas von oben zu kommandieren.

Die Feder weitergeben

Derart gelesen zu werden birgt jedoch auch ein Risiko, nämlich jenes, die Sache zu einem Monolog werden zu lassen, was meiner Intention widerspricht: Ich liebe es, zu schreiben, aber ich liebe es auch, die Erfahrungen, Ansichten, Träume und Hoffnungen anderer zu erfahren. Wie es vermutlich einige von euch aus der Schule oder auch der Universität kennen, zeichnet sich ein Monolog oft dadurch aus, dass einer sich in seinem Redefluss und seines Toll-Seins nicht beherrschen kann und einfach vor lauter Begeisterung niemand anderen zu Wort kommen lässt. Sein Redeschwall lässt keinen Raum für Kommentare oder gar Redeschwälle der anderen. Ein Dialog, und schon gar kein Pluralog, kann nicht existieren ohne die Erfahrung der Stille.

Deswegen werde ich nun, nach bald zwei Monaten „Redeschwall“, das heisst, ein Beitrag jeden Tag, eine ein-wöchige Pause einlegen, eine Zeit der Stille, einen Raum für euch, diese Stille zu geniessen (ein durchaus löbliches Unterfangen) oder auch den Mut zu sammeln, diese Stille zu durchbrechen und mit euren Erfahrungen, euren Ideen, Hoffnungen und Träumen zu erfüllen. Ich bin neugierig auf Erfahrungen und Meinungen von Kindern, Jugendlichen, Eltern, Studenten, Professoren, selbsternannte Bildungsexperten oder auch selbsternannte Bildungsunwissenden. Ich glaube, all eure Erfahrungen sind sehr wertvoll für mich und auch viele andere Leser.

Ich möchte hier Erfahrungen von möglichst vielen Menschen versammeln, nicht, um damit am Ende ein wissenschaftlich abgesichertes System abzuleiten (siehe die Grenzen der Wissenschaft), sondern weil uns diese Erfahrungen helfen können, unseren Horizont zu erweitern, zu erkennen, wie individuell, wie wunderbar unterschiedlich und damit interessant wir alle füreinander sein können. Eine geteilte Erfahrung, die empathisch verstanden werden kann, ist so etwas wie eine Technik in der Kampfkunst, eine Rolle im Theater: sie hilft uns, unser Gegenüber empathisch zu verstehen und damit an unserer Meisterschaft des menschlichen Umgangs miteinander zu arbeiten.

Wahrer Reichtum

Ich weiss, viele von uns (mich eingeschlossen) bekommen tagtäglich in unseren jeweiligen Institutionen eingetrichtert, dass unsere Meinung, unsere Träume – wir – es nicht wert sind, dass wir die Klappe halten und unsere Arbeit machen sollen, und diese Behandlung über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg macht es nicht leichter, die eigene innere Welt der äusseren zu eröffnen. Aber diese Welt braucht eine jede dieser inneren Welten, braucht eure Perspektive, um die vielen zerbrochenen Träume, die vielen Ungerechtigkeiten, die vielen Verletzungen und Narben zu heilen. Diese Welt braucht dich, lieber Leser, braucht deinen Beitrag im grossen Buch des Lebens. Nicht zwingend hier in diesem Blog (das wäre egoistische Eigenwerbung). Aber deine persönlichen Erfahrungen und Schlüsse daraus und die deiner Mitmenschen sind der wahre Reichtum dieser Welt.

Ein letzter Abraço (Umarmung) aus Curitiba, wo auch immer ihr gerade seid, und ich freue mich über jeden Kommentar, einen jeden Beitrag, der hier eintrudelt:
bunterrichten@gmail.com

In Liebe und freudiger Erwartung der Heimat,
Niklas

Raststation

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Es ist unmöglich, all die kleinen und grossen Erlebnisse, die dieses Jahr in Brasilien zu etwas Besonderem machten, authentisch in einen kleinen Beitrag zusammenzufassen, aber diese Lebensabschnittswechsel mit ihren Lebensabschnittsmenschen sind gute Möglichkeiten, innezuhalten und über die Vergangenheit zu reflektieren. Vor etwas mehr als einem Jahr musste ich, um hier aufgenommen zu werden, ein Motivationsschreiben verfassen, und auch, wenn ich das Original nicht mehr habe, weiss ich noch ziemlich genau, was meine Vorstellungen von diesem Jahr waren. Ich wollte eine neue Sprache lernen. Ich wollte wissen, wie man sich als Migrant in einem fremden Land fühlt. Und ich wollte, fern von allen bekannten Umgebungen und Menschen, wieder bei null anfangen, um herauszufinden, wer ich in Wahrheit bin.

Ich, der Migrant

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Die ersten zwei Monate waren die Hölle. Die Universität streikte, ich hatte nichts zu tun, es war kalt und regnerisch draussen und ich verstand kein Wort Portugiesisch. Da ich sehr lange Zeit im Hostel wohnte, lernte ich zwar viele nette Reisende kennen, die teilweise auch Englisch sprachen, aber die meisten von ihnen blieben einige Tage und verschwanden dann wieder aus meinem Leben. Ich verbrachte Tage, ohne viel aus dem Haus zu gehen, verbrachte Stunden mit meinem Laptop. Im Hostel sprachen die Mitarbeiter Englisch, teilweise sogar Deutsch. Es war mein sicherer Hafen, mein Anker in diesem Chaos, in dem ich nicht mehr verstand als ein „Isso!“ (Genau!), indem ich (Danke Österreich für die vielen nutzlosen Vorurteile) Angst hatte, ausgeraubt zu werden oder anderen die Zeit mit meinem nicht vorhandenen Portugiesisch zu stehlen.

Ich kann nur mutmassen, wie es für viele Asylwerber und „echte“ Migranten sein muss, die in einer ähnlichen Situation etwa nach Österreich kommen, jedoch ohne den sicheren Polster eines halbwegs gefüllten Bankkontos, vielleicht noch mit einer Familie, die sie unterhalten müssen, in einem Land, in dem diese unglaubliche Zahl von Vorurteilen gegen Ausländer die Regel zu sein scheinen. Ich wurde hier, sobald ich es selbst zulassen und mich von meinen Ängsten etwas lösen konnte, überaus freundlich aufgenommen, die Menschen hatten sehr viel Geduld (und auch Spass) mit meinem anfangs sehr langsam wachsenden Portugiesisch-Wortschatz. Man merkt, dass Brasilien ein Einwanderungsland ist, dass ein jeder hier in seinem Stammbaum ausländische Wurzeln hat.

Die Situation besserte sich beträchtlich, als ich in das Apartment, in dem ich auch jetzt wohne, zog, und mit einem englisch sprechenden Brasilianer sowie einem Deutschen zusammen wohnte, sowie regelmässiger mit meinen alten Freunden und Bekannten in Österreich und sonstwo Kontakt hielt. Was auch immer uns diverse Parteien über die Gefahr der Ghettobildung erzählen wollen, in meiner Erfahrung ist das Finden von Gleichgesinnten, von einer Art von Heimat in der Fremde, erst die Voraussetzung für ein darauf folgendes Zugehen auf eine sprachlich und kulturell sehr fremde Umgebung. Ich glaube, wer dieses Finden einer Heimat in gleichgesinnten, gleichsprachigen Menschen verbieten will, schafft damit mehr Probleme, als er löst.

Furchtlose Entdecker

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Die wohl prägendste Erfahrung, die sich hier vielfach in verschiedenster Form wiederholt hatte, war diejenige, dass ich meinen eigenen Weg finden und gehen kann, und nicht nur das, sondern dass dies nicht bedeuten muss, diesen Weg alleine gehen zu müssen. Ich glaube, dies mag eine der grössten Ängste zu sein: alleine zu sein, lieber das tun, was alle tun, auch wenn man nicht 100%ig einverstanden ist damit, aber wenn es alle tun, werden die schon wissen, dass es Sinn macht, und zumindest bin ich nicht alleine.

Schon vor Beginn meiner Brasilien-Reise war eigentlich klar, dass es nichts werden kann. Die Partner-Universität in Porto Alegre gibt es nicht mehr. Aber wenn du unbedingt willst, dann schreib halt die Unis direkt an, sagt der grosse Chef mit einem Lächeln, das soviel sagt wie: probiers ruhig, wirst schon sehn, dass man da einfach nichts machen kann. Dann das lange Tauziehen, bis mir über das Goethe-Institut in Deutschland ein Kontakt zu einer Österreicherin hier an der Uni in Curitiba vermittelt wird, die einem verzweifelten Landsmann etwas behilflich sein will, es wird ein Kooperationsvertrag zwischen den Unis ausverhandelt, der dann plötzlich „verloren“ geht. Aber weil ich monatelang darum kämpfte, lassen sie mich doch noch herkommen. Dann soll ich kein Visa bekommen, weil irgendein beglaubigtes Dokument in Farbe aus Brasilien fehlt, und irgendwann stehe ich nach 50 Stunden ohne Schlaf am Flughafen in Curitiba und denke mir: Ich habe gerade etwas zusammengebracht, was objektiv gesehen unmöglich sein sollte.

Und heute, nach einem lehrreichen Jahr, sagt mir meine Erfahrung, dass diese objektive Unmöglichkeit nicht existiert, dass ein jedes System, das uns sagt, nein, das geht nicht, aus Menschen besteht, die einem System folgen mögen, weil sie Angst haben, mit ihm zu brechen, aber insgeheim von einer anderen Welt träumen. Ich selbst bin nichts, ein Kieselstein in der Geschichte. Aber ich kann, wenn der Ort und die Zeit dafür reif sind, dadurch, dass ich einen Weg beschreite, andere Menschen, die Angst davor haben, diesen Weg alleine zu gehen, inspirieren, mit mir zu gehen oder ihre eigenen, besonderen Wege einzuschlagen.

Ein Ende – und ein Neuanfang

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Das Österreicher-Dorf hier ist einfach nicht dasselbe…

Nun nähert sich dieser wunderschöne Weg, den ich alleine nie bewältigen hätte können, einer weiteren interessanten Etappe. Ich werde zurückkehren nach Österreich, einem Land, dessen Schönheit und dessen gute Eigenschaften ich nun aus der Ferne schätzen und lieben lernen durfte. Ich werde zurückkehren als der Mensch, der ich vor Beginn dieser Reise war, aber erlöst von vielen der Masken, die ich zu tragen pflegte, die wir wohl alle von Zeit zu Zeit benutzen, aus Angst, andere zu verletzen, aus Angst, selbst verletzt zu werden, aus Angst, anders zu sein, alleine zu sein. Vielleicht werden wir sie nie ganz los, vielleicht erfüllt sie auch einen wichtigen Zweck. Es ist ein Prozess des Herausschälens, des tiefer Grabens, des Befreiens, der vermutlich nie ganz aufhört.

Gut so – so bleibt es spannend.

Niklas

Die Spuren, die wir hinterlassen

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Der Tod ist eine Reise. Wer stirbt, lässt andere Menschen zurück. Wer reist, lässt andere Menschen zurück. In beiden Fällen geschieht manchmal etwas Nicht-Alltägliches, etwas Besonderes: Gefühle werden zugelassen, und nicht nur zugelassen, sondern auch ausgedrückt. Im Sterben stellt sich die Sinn-Frage, ein Leben lang oft nicht beantwortet oder gar nie gestellt, sehr akut: warum war ich hier? Welchen Sinn hatte mein Leben? Der Tod, grösster aller Meister, verbreitet eine besondere Atmosphäre, eine, die unsere alltägliche Reserviertheit aufheben und radikale Ehrlichkeit ermöglichen kann. Es bleibt keine Zeit für Umschreibungen und Floskeln. Die Wahrheit. Die eine letzte Chance, unsere Rüstungen und Waffen abzulegen und uns von Mensch zu Mensch zu begegnen.

Ein kleiner Tod

Zu reisen, ist zu sterben. Ich spreche hier nicht von einem all-inclusive-Urlaub in der Türkei für 1000 Euro, sondern der stillen Variante. Nicht die Action-Erlebnis-durchgeplante Variante mit Pool, zu der wir uns einmal im Jahr hingezogen fühlen mögen, oder zumindest diejenigen von uns mit der entsprechend vollen Brieftasche. Nein, ich spreche von den Reisen ohne bereits gebuchte Widerkehr, denen, in denen eine jede Begegnung die potentiell letzte Begegnung mit diesem Menschen sein kann.

Den Monaten, in denen wir durch Bolivien und den Norden Brasiliens gereist sind, ohne dabei mit Sicherheit zu wissen, a) ob wir sie heil überstehen und b) wohin sie uns noch führen wird. Und letztlich von meiner langen Reise von Österreich hierher beziehungsweise nun in wenigen Tagen der ebenso langen Reise zurück nach Österreich. Als ich damals von Österreich aufbrach in dieses Abenteuer, ohne irgendwelche Sprachkenntnisse in einem etwa 10.000 km entferntes Land ein Jahr zu verbringen, war ich damals schon überrascht und gleichzeitig unglaublich gerührt von den vielen kleinen und grossen Abschiedsgeschenken und guten Worten der Menschen, die ich (sehr oft unbewusst) berühren und deren Leben ich bereichern durfte.

Ein Paradebeispiel dafür ist ein kleines Bilhet, das mir meine Kollegen der pädagogischen Hochschule, in der ich mich (fälschlicherweise) nie so ganz heimisch gefühlt hatte, zum Abschied überreichten, in denen ein jeder auf seine Art und Weise eine sehr liebevolle Botschaft hinterlassen hatte. In den Tagen, Wochen und Monaten, in denen es mir nicht sehr gut ging hier (vor allem den ersten, in denen ich kein Wort Portugiesisch verstand), würde ich dieses Bilhet herausholen und wissen, dass, egal was mit mir hier passierte, irgendwo auf dieser Welt, in meiner Vergangenheit, einem anderen Leben, wenn man so will, habe ich, oft ohne es zu bemerken, Menschen berührt. Dies nimmt die schlimmste Angst vor dem Tod: dass das gelebte Leben keinen Sinn hatte.

Wiedergeburt

Gestern lud ich einige meiner hier kennen und lieben gelernten Menschen ein, sich noch einmal zu versammeln, ich hatte einen Kuchen gebacken und wir spielten mit einigen kleinen Bällen Rot-Blau-Tot und andere Kinderspiele, machten Abends noch Pancakes und spielten fünf Stunden lang bis 2 Uhr in der Früh Risiko – ein sehr schöner Tag mit vielen fröhlichen Gesichtern. Was mich jedoch am meisten berührte, waren einige Zeilen, die eine Freundin aus Argentinien verfasst hatte. Ich wollte sie erst (in Übersetzung) hier abtippen, bis mir klar wurde, dass diese Zeilen für mich verfasst sind und nicht für die ganze Welt, und dass es respektlos wäre, sie hier 1:1 zu veröffentlichen.

Sinngemäss schrieb sie, dass sie durch mich wieder an eine andere Welt glauben kann, eine Welt, in der sie einfach glücklich und fröhlich sein kann, so wie ich, und dass diese Welt mehr Menschen wie mich braucht, die diese Welt zum Guten verändern wollen, aber im Kleinen damit beginnen, mit Free Hugs, mit wunderschöner Musik auf der Strasse, einem Lächeln für die, die kein Lächeln erwarten.

Wandernde Meister

Als ich diese Zeilen las, wurde mir bewusst, welche Spuren ich wohl hier in diesem Jahr wirklich hinterlassen durfte, wie so oft, ohne es zu bemerken. Ich habe mit ihr abgesehen von einer grösseren Wanderung kaum sehr viel unternommen, ansonsten sahen wir uns meistens in der Mensa oder zufällig auf der Strasse, und ohne diese Zeilen hätte ich wohl nie bemerkt, welchen tiefen Eindruck ich augenscheinlich hinterlassen habe. Ich kann mich nicht einmal erinnern, mit ihr irgendwann einmal über Utopien oder Weltverbesserungen gesprochen zu haben. Möglicherweise nähere ich mich mittlerweile wirklich ein wenig dem im Tao Te King beschriebenen Ideal des Lehren, ohne zu lehren.

Während wir vor einer Reise oft sehr genau abschätzen können, wann ein Mensch uns für vielleicht lange Zeit verlassen wird, ist der Tod oft ein unerwarteter Besucher. Wir wissen nicht, wann er kommt, um die besonderen Menschen in unserem Leben heimzuholen, und ob wir die Art und Weise, wie wir wirklich über andere Menschen denken, ihnen am nächsten Tag noch zeigen können. Die Erwartung des Todes verbreitet eine besondere Atmosphäre, vor der wir uns fürchten mögen, aber warum bringen wir den positiven Aspekt dieser Atmosphäre, die Ehrlichkeit, nicht auch im täglichen Leben zustande? Wovor haben wir Angst? Warum die Masken und Fassaden?

Es wird ein Tag kommen, an dem diese Fassaden fallen, an dem wir diese Masken nicht mehr brauchen, an dem wir jemandem in die Augen sehen können und sagen: Ich liebe dich dafür, dass du existierst und diese Welt bereicherst. Ich liebe dich für dein Du-Sein, nicht für deine Fähigkeit zur Anpassung, sondern für dein inneres Licht, das diese Welt in deinen Regenbogen voller Farben taucht.

Es wird der Tag nach demjenigen Tag sein,
an dem wir dies erstmals zu uns selbst sagen können.

Niklas